Guter Hoffnung sein
Im Mai 2014 halte ich meinen ersten positiven Schwangerschaftstest in den Händen. Endlich darf ich mal die andere Seite kennenlernen und selbst schwanger sein.
Da ich mich entscheide, die Vorsorgeuntersuchungen vorrangig durch meine Hebammenkollegin machen zu lassen, gehe ich erstmal nicht zu meiner Frauenärztin. Ich genieße die Ruhe der ersten Vorsorgen zu Hause in unserem Wohnzimmer. Ohne Stress, ohne Wartezeit in einem vollen Wartezimmer…
Auch wenn ich erst seit ein paar Wochen weiß, dass ich schwanger bin, so fühle ich mich schon absolut so. Ich bin voll und ganz guter Hoffnung.
Als ich in der 12. SSW in die gynäkologische Praxis komme, steht der erste Ultraschall an. Ich blicke den Monitor und plötzlich kommt dieser Gedanke, dass wir dort vielleicht kein schlagendes Herzchen werden sehen können. Es war mehr ein Gefühl, dass auf einmal da war, als dass man es schon auf dem Bildschirm hätte erkennen können…
Meine Frauenärztin gibt sich Mühe, keine endgültige Aussage zu treffen. Möglicherweise hätte ich mich ja verrechnet und das Kindchen sei noch viel kleiner. Sie könne nach dem Wochenende nochmal schauen, damit wir ganz sicher sein können „nichts“ zu übersehen.
Ich fühlte mich wie in einer dumpfen Blase.
„Jede dritte Frau erlebt eine Fehlgeburt“ sagt die Stimme in meinem Kopf.
Zu Hause hole ich meine Lehrbücher heraus. Irgendwie kann ich in dem Moment nicht auf mein Hebammenwissen zugreifen. Ich lese zu missed abortion:
Von einem verhaltenen Abort (in der Fachsprache „missed abortion“ genannt) spricht man, wenn der Embryo oder Fetus stirbt und unbemerkt zusammen mit der Plazenta bzw. dem Trophoblast manchmal wochen- oder gar monatelang in der Gebärmutter verbleibt. Der verhaltene Abort macht etwa 90% aller Fehlgeburten aus.
Ich frage mich, warum ich vorher nichts gemerkt habe.
Hätte ich das nicht wahrnehmen müssen?
Was war, was ist los mit meiner Intuition?
„Jede dritte Frau erlebt eine Fehlgeburt“ höre ich wieder die Stimme in meinem Kopf. Ich bin verunsichert, weiß nicht so genau, was ich fühlen soll.
Hoffen? Insgeheim weiß ich eigentlich, das sich dieses Kind entschieden hat wieder zu gehen. Ich taumele zwischen „mich nicht trauen zu hoffen“ und „noch nicht trauern zu dürfen“.
Annehmen und Loslassen..?
Im zweiten Ultraschall sehen wir, dass wir nichts sehen.
Keine Herzaktivität. Laut Schall scheint das Kind seit der 8. Woche nicht mehr gewachsen zu sein.
Ich bekommen eine Überweisung in die Klinik mit den Worten: „Sie sind ja noch jung und können noch viele Kinder kriegen!“. Na prima, vielen Dank auch.
„Ich möchte keine Ausschabung.“ höre ich mich noch sagen. Ich werde über Risiken aufgeklärt. Ich merke deutlich, dass meine Ärztin nicht viel von meiner Entscheidung hält. Ich fühle mich nicht gesehen, mit meinem Weg, meinen Wünschen und mit meiner Trauer um dieses Kind. Mein Kind.
Meine Kollegin besucht mich nun täglich. 3 Tage warten wir ab, ehe wir beginnen das Kindchen einzuladen sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Ich gebe meinem Baby einen Namen, schreibe viel Tagebuch und einen Brief an mein Kindchen…
Nach ein paar Tagen wird mir klar: Ich schaffe nicht, sie gehen zu lassen. So groß ist der Wunsch, sie bei mir zu haben, bei mir zu behalten. Und gleichzeitig befürchte ich an ihrer Gegenwart zu zerbrechen. Sie ist ein Teil von mir und doch kein Teil von mir…
Und so entscheide ich mich schließlich, trotz meiner Sorge vor einem operativen Eingriff, für eine Ausschabung.
Der Eingriff am kommenden Morgen verläuft aus medizinischer Sicht komplikationslos. Wieder höre ich Sätze wie „Jetzt wissen sie immerhin, dass sie schwanger werden können!“ oder „Naja, es war ja noch klein.“
Am späten Nachmittag bin ich wieder zu Hause. Ich weine viel. Auch die kommenden Tage noch. Immer wieder höre ich die Stimme sagen „Jede dritte Frau erlebt eine Fehlgeburt“ – und es kommt noch ein weiterer Satz dazu: „Das ist also völlig normal“.
Dieses „völlig normal“ oder Sätze wie „sie sind ja noch jung“ suggerieren, dass ich als Mama nicht traurig sein darf. Diese „normale“ Katastrophe schnell überwunden haben soll. Einfach weiter machen soll.
Ein großer Verlust, der doch kein Abschied sein kann.
Wege der Heilung
Viele Male bin ich in diesem Trauerprozess über meine Grenzen gegangen. Habe versucht mich abzulenken von dem Schmerz, in dem Glauben nicht trauern zu dürfen. Habe nicht auf mein Bauchgefühl gehört, mich von meinen Bedürfnissen abgewendet. Ich gönne mir eine Auszeit von der Hebammerei.
Auf meinem Heilungsweg finde ich zum Yoga und zur Meditation. Und nach viel Ruhe und Raum fürs traurig, wütend und dankbar sein, kann ich irgendwann endlich Abschied nehmen.
Als ich ein Jahr später wieder anfange als Hebamme zu arbeiten, begegnen mir (gefühlt viel mehr) Paare mit vorangegangenen Fehlgeburten. Viele Haben diese Sätze gehört, die wohl mitfühlend und aufmunternd gemeint sind, ihren Sinn und Zweck aber viel zu oft verfehlen.
Ich folge dem Impuls, den Paaren in der neuen Schwangerschaft nochmal Raum für ihre Trauer zu geben. Viele nehmen das voller Dankbarkeit an und so geht es in den ersten Besuchen immer auch um die vorherige Schwangerschaft und das verabschiedete Kind. Keines der Paare hat sich vorher gesehen gefühlt in ihrer Trauer. Wir gestalten kleine bunte Boxen der Erinnerung, lassen Luftballons fliegen und damit auch Erlebnisse, die losgelassen werden wollen…Vor allem die Väter haben hier nochmal einen Raum erhalten, um traurig zu sein.
Es ist, was es ist, sagt die Liebe.
Heute bin ich meiner kleinen Tochte sehr dankbar für diese Erfahrungen von damals.
Erfahrungen, an denen ich auch heute noch wachsen darf. Lernfelder, die sich mir gezeigt haben, durch die ich immer wieder auf andere Art und Weise gehen darf.
Und dennoch ist da immernoch ein Schmerz.
Darüber, dass ich sie nie in den Arm nehmen konnte.
Und weisst du, was schön daran ist? Er darf da sein, dieser Schmerz.
Bist du auch eine "dritte Frau"?
Was hat dir in deiner Trauer geholfen? Ich freue mich über deinen Bericht in den Kommentaren!